domenica 13 maggio 2012

POPULISMO. DISCUSSIONE. MULLER J-W., Wir! Sind! Das! Volk!, ZEITONLINE, 2012

Die Populisten in Europa glauben, sie allein begriffen den wahren Wählerwillen. Damit gefährden sie die Demokratie.


Er ist scheinbar überall in Europa angekommen, der Populismus. Ob der Front National in Frankreich, die Lega Nord in Italien oder Geert Wilders in den Niederlanden: Populistische Parteien haben sich einen festen Platz in Europa erobert; die einstmals verbreitete Meinung, solche Parteien entfachten allenfalls ein Strohfeuer von kurzfristig politisch wirksamen Ressentiments, ist offenbar irrig. Seit den frühen neunziger Jahren sind in Europa zwanzig bedeutende populistische Bewegungen entstanden, aber nur zwei davon gibt es nicht mehr, darunter die Liste des 2002 ermordeten Pim Fortuyn. Ebenso falsch ist die Vorstellung, Populisten könnten sich nie an der Regierung halten, weil Protest kein Programm sei: Ohne Geert Wilders geht in den Niederlanden nichts, ohne Umberto Bossi hätte es keinen Berlusconi gegeben. Und in Ungarn regiert die nationalpopulistische Fidesz mit Zweidrittelmehrheit im Parlament und baut den Staat nach ihren Vorstellungen um.
Doch kann man diese Parteien wirklich als populistisch bezeichnen? Wie sauber verläuft die Trennlinie zwischen dem Populismus und seinen Gegnern? Linke Theoretiker monieren, die etablierten Parteien benutzten das »P-Wort« nach Gutdünken, um Kritiker der herrschenden neoliberalen Verhältnisse mundtot zu machen. Rechte Stimmen klingen ähnlich, wenn sie behaupten, jedes Nein bei Referenden über EU-Verträge werde von Brüssel automatisch als populistisch und damit als ungültig deklariert. Deshalb trägt Marine Le Pen stolz das Etikett »Populistin« vor sich her, als wäre es ein demokratisches Ehrenabzeichen – denn dies bedeute, so Le Pen, das Volk, insbesondere »die Vergessenen«, gegen die Eliten zu verteidigen.
Ist des einen Demokrat also des anderen Populist? Kann der Vorwurf, populistisch zu sein, gar selber populistisch sein, wie Ralf Dahrendorf vor gut zehn Jahren anmerkte? Die Versuchung ist groß, das Phänomen anhand eines bestimmten Politikstils zu fassen zu kriegen. Sind es nicht stets die gleichen Parolen wie »Weniger Einwanderer« und »Steuern runter«, mit denen Wähler geködert werden? Versprechen Populisten nicht immer einfache Lösungen für komplexe Probleme? Auf den ersten Blick leuchtet diese Logik ein – an ihren Wünschen sollt ihr sie erkennen. Aber auf den zweiten Blick lässt sich hier keine klare Abgrenzung ziehen: Mehr Netto vom Brutto wollen viele, und objektiv lässt sich nicht immer sagen, wo Politik harte Bretter bohrt und wo nicht.
Jan Werner Müller
lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton. In diesem Jahr erscheint sein Buch Das Demokratische Zeitalter: Politische Ideen in Europa, 1914–1991.
Nicht viel mehr taugt die Theorie, nach der Populisten und Extremisten vor allem von Modernisierungs- oder Globalisierungsverlierern gewählt werden. Eine viel beachtete Studie über die rechte ungarische Partei Jobbik ergab, dass es deren Klientel im Vergleich zum Durchschnitt weder an Bildung noch an Arbeitsplätzen mangelt; Untersuchungen zu den Schwedendemokraten und der English Defence League kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Ohnehin gilt: Es liegt in der Natur der wirtschaftlichen Globalisierung, dass man sie überall als bedrohlich empfinden kann. Aber nicht überall finden populistische Parteien genauso viel Zuspruch.
Was die Populisten wirklich eint, ist die Vorstellung eines moralisch reinen Volkskörpers, dem Fremde aus gleich zwei Richtungen Schaden zufügen: zum einen die korrupten oder zumindest abgehobenen Eliten, zum anderen die buchstäblich Fremden, also ethnische oder religiöse Minderheiten und insbesondere Einwanderer. Beide verweigern der Nation vermeintlich ihre Loyalität: Die Eliten sind Teil eines kosmopolitischen Jetsets, die Minderheiten tragen immer etwas anderes als das Volk, beispielsweise den Islam, im Herzen. In Ungarn werden sie mit dem Ausdruck »fremdherzig« stigmatisiert. Außerdem, so vor allem eine osteuropäische Wahrnehmung, zahlen Eliten wie ethnische Minderheiten grundsätzlich zu wenig Steuern – und das seinerseits korrupte Brüssel hält über beide seine schützenden Hände.
Populistische Politiker heben immer zum Doppelschlag an, gegen linksliberale Eliten und illegale Einwanderer (ein Markenzeichen von Berlusconis Rhetorik), gegen postkommunistische Eliten und Roma, so Jobbik in Ungarn, Ataka in Bulgarien, die Großrumänen in Bukarest. In den USA ist die vermeintliche unheilige Allianz aus den Elite-Demokraten von beiden Küsten und den schwarzen Unterschichten das Feindbild. In dem Harvard-Absolventen Barack Obama hat sich diese Allianz geradezu personifiziert – und weil niemand bestreiten kann, dass der 2008 die meisten Stimmen bekam, wird ständig irgendein Verdacht gegen ihn erhoben. Es heißt, er sei doch Muslim, und die Bewegung der »Birthers« ist überzeugt, dass Obama nicht in den USA geboren worden sei und deswegen laut Artikel 2 der amerikanischen Verfassung auch nicht Präsident sein dürfe.
Populisten sind nicht nur von politischer Paranoia verfolgt – aber ohne Bedrohungsszenario und das Gefühl, Opfer derjenigen zu werden, die eigentlich gar nicht dazugehören, gibt es keinen Populismus. Für seine Anhänger ist Politik vor allem eine Frage der Identität. Auch ohne Euro-Krise würde Marine Le Pen behaupten, das Gegeneinander von Nation und Europa sei der wichtigste politische Kampf der Gegenwart. Und wenn Le Pen oder Wilders Werte wie Freiheit und Emanzipation hochhalten, dann werden diese nicht als liberal-universalistisch verstanden, sondern als Teil eines nationalen Selbstverständnisses, das die Fremden – vor allem die Muslime – nicht teilen können.
Entscheidend ist nun, dass aus der Vorstellung des moralisch reinen, homogenen Volkskörpers keineswegs der Wunsch nach mehr politischer Teilhabe folgt. Auch wenn sie immer wieder Referenden fordern – die Kritik gilt nicht der Repräsentation an sich; vielmehr lautet die Diagnose: Wir leben in einer nicht repräsentativen Demokratie, in der das wahre Volk keine Vertreter hat. Im Extremfall scheint es seine Verkörperung in einer einzigen Person zu finden, zum Beispiel dann, wenn Hugo Chávez behauptet: »Ich bin ein bisschen von allen von euch.«
Populismus muss aber nicht notwendigerweise antiparlamentarisch sein: Ungarns Premier Viktor Orbán macht nicht Stimmung gegen ein Abgeordnetenhaus, das von seiner Partei Fidesz völlig dominiert wird. Gegen Pluralismus, Gewaltenteilung, die Vorstellung einer legitimen Opposition ist der Populismus hingegen zwingend gerichtet: Warum würde das Volk mit sich selbst im Clinch liegen?
Es ist richtig, dass Populisten simple Lösungen für komplexe Probleme anbieten – aber ihre folgenreichste Vereinfachung besteht in der Vorstellung, »das Volk« ließe sich klar bestimmen und eindeutig repräsentieren. Eigentlich gibt es bei den Populisten nichts zu beratschlagen oder zu verhandeln – dem authentischen Volkswillen lässt sich nichts entgegensetzen. Deshalb ist Populismus nicht nur antiliberal, sondern apolitisch. Bürger, so betonte Hannah Arendt, sind politisch Gleiche, aber in ihren Vorstellungen verschieden; deshalb müssen sie sich über ihr Gemeinwohl friedlich streiten, bevor sie gemeinsam handeln können – wenn über all das jedoch eigentlich nicht mehr geredet zu werden braucht, ist Politik am Ende. Ohne Pluralität keine Politik.
Hier berühren sich die Extreme: Das postdemokratische Dekret »Es gibt keine Alternative« leugnet ebenfalls die Notwendigkeit politischer Auseinandersetzung. Populismus könnte somit Teil eines Horrorszenarios werden, das der bulgarische Politikwissenschaftler Iwan Krastew bereits 2007 an die Wand gemalt hat: Liberale Eliten, die sich am liebsten andere Völker wählen würden, stehen illiberalen Wählern gegenüber, die ihre Sicherheit in einem trotzigen »Allein wir sind das Volk« suchen.

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